Gesine Schwan | Foto: Hans-Christian Plambeck
Gastbeitrag von Gesine Schwan
Bis zur Invasion Putins in die Ukraine verfolgte die EU-Flüchtlings- und Asylpolitik im Wesentlichen das Ziel, Flüchtlinge von der EU abzuschrecken, Pushbacks zu decken oder selbst auszuführen und so viele Menschen wie möglich aus der EU abzuschieben. Damit haben die EU und ihre Mitgliedstaaten täglich gegen ihre Werte verstoßen und Völkerrecht gebrochen.
Gleich nach dem Antritt der neuen Bundesregierung im Dezember 2021, die in ihrem Koalitionsvertrag einen »Neuanfang« und einen »Paradigmenwechsel« in der Migrationspolitik fordert, hat sich die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser zusammen mit ihrem französischen Kollegen auf erste Schritte eines Neuanfangs verständigt. Freilich hatte sie für eine strategische Neuausrichtung bisher kaum Zeit, weil Putins Angriff auf die Ukraine in Europa eine bisher nach dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesene Fluchtbewegung ausgelöst hat, mit der nach drei Wochen Krieg ca. 3 Millionen Menschen – vornehmlich Mütter, Kinder und alte Menschen – die Ukraine verlassen haben. Es ist zur Zeit schwer, die kurzfristig notwendigen Abstimmungen mit langfristig strategischen Schritten zu vereinbaren.
Wie schon während des Syrienkriegs 2015 entstand bei Beginn des Ukrainekriegs sofort in Europa eine große Bewegung der Sympathie und des herzlichen Willkommens gegenüber den Flüchtlingen. Aber anders als 2015 haben die europäischen Regierungen mit einer Reaktivierung der sog. Massenzustrom-Richtlinie reagiert, die es den Flüchtlingen erlaubte, ohne Visum einzureisen und für ein Jahr einen Schutzstatus mit sozialen Leistungen zu erhalten, der zweimal verlängert werden kann. Überdies dürfen sie sofort beginnen zu arbeiten, Sprachkurse zu besuchen, und die Kinder können zur Schule gehen. Als die Nichtregierungsorganisation »Equal Rights« genau dies angesichts des Syrienkriegs schon 2015 forderte, wurde sie von den europäischen Staats- und Regierungschefs noch abgewiesen.
Interessant ist, dass die Einstimmigkeit für diesen Beschluss zur Massenzustrom-Richtlinie erst gelang, als klar war, dass sich die Geflüchteten in der EU frei bewegen dürfen und nicht – wie gemäß der »Dublin III Verordnung« – in das Land ihrer Erstankunft in der EU zurückgeführt werden dürfen oder müssen. Diese freie Mobilität setzt auf die Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger in Europa, sowohl der flüchtenden als auch der aufnehmenden, und ermöglicht flexible Reaktionen auf die Herausforderung der Unterbringung. Dabei gibt es zur Zeit umgekehrt keine Planungssicherheit, die auf längere Sicht vermutlich doch erforderlich werden wird.
Und noch etwas war und ist ganz anders als 2015: Mittelosteuropa, insbesondere Polen öffnete sich weit für die Flüchtlinge, und zwar nicht nur die Zivilgesellschaft, die über weite Teile schon vorher bereit war, Geflüchteten zu helfen und dies auch in der tödlichen Falle an der Grenze zwischen Polen und Belarus Anfang 2022 mit großem Einsatz demonstriert hat. Auch die Regierungen der Visegrád Staaten zeigten sich aufnahmebereit. Viktor Orbán beeilte sich allerdings, diese Hilfsbereitschaft nicht als Flüchtlings-, sondern als Nachbarschaftshilfe zu deklarieren.
Warum ist die Reaktion hier ganz anders als in allen vorangegangenen Fällen, als die EU zu keiner gemeinsamen humanen Flüchtlingspolitik fand?
Sicher spielt die Nähe des ukrainischen Kriegsgeschehens, die Eindeutigkeit des grausamen Angriffskriegs und das täglich im Fernsehen sichtbare Leid der Ukrainer*innen unter den Attacken der russischen Armee eine wichtige Rolle. Darüber hinaus aber gibt es viel mehr kulturelle, verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zwischen Menschen in der Ukraine und Polen bzw. Ungarn, der Slowakei, Rumänien oder Moldau als zwischen ihnen und Geflüchteten aus dem Nahen Osten oder Afrika. In Polen arbeiteten schon vor dem Kriegsausbruch ca. 1 Million Ukrainer*innen, und gleich nach 1989 waren viele nach Polen gekommen, die zwar keine staatlichen Leistungen erhielten, bei denen aber von Integrationskonflikten keine große Rede war. Berichtete Fälle, in denen Flüchtlinge aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass auch jetzt an der polnischen Grenze zurückgewiesen worden seien, wurden von der polnischen Regierung bestritten.
Hier befördert das allgemein ins Positive umgeschlagene öffentliche Klima in Bezug auf die Geflüchteten offenbar einen sozialen Druck, in dieser furchtbaren Kriegssituation – von der ja alle in der Ukraine, auch z. B. muslimische Studierende, betroffen sind – diese nicht zu diskriminieren.
Vielleicht bietet diese neue Erfahrung in allem Grauen des Ukrainekrieges die Chance, dass die EU gemeinsam lernt und endlich zu einer menschlichen Flüchtlingspolitik findet. Was könnten wir lernen?
Wir könnten lernen, dass wir Menschen in Not unter Bedrohung von Leib und Leben besser helfen können als bisher und dass es der EU und der Integration am besten tut, wenn Geflüchtete von Anfang an arbeiten und Deutsch lernen können. Wir könnten mehr Vertrauen in die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zur Selbstorganisation aufbringen und die sog. »Binnenwanderung« von Geflüchteten in der EU dadurch stark verringern, dass wir Ihnen gestatten, den Ort selbst zu wählen, an den sie gehen wollen. Wir könnten experimentell beobachten, ob das große Steuerungsprobleme für die Staaten und Kommunen nach sich zieht, oder ob der Vorteil der Freiwilligkeit und der Flexibilität überwiegt. Wenn Kommunen jetzt schnell dazu übergingen, auf ihrer Homepage öffentlich zu machen, wieviel Geflüchtete sie im Einvernehmen mit den nationalen Regierungen willkommen heißen und was sie ihnen anbieten können (wohnen, arbeiten, Bildung, Gesundheitsdienste, Verkehrsinfrastruktur, kulturelle Chancen, Sport etc.), könnten sie Menschen anziehen, die freiwillig davon absehen, in die großen Städte zu gehen.
Freilich bleibt es ein Unterschied, ob ukrainische Mütter, Kinder und alte Menschen aus dem Nachbarland fliehen oder junge Männer aus dem Nahen Osten und aus Afrika kommen, die unter dem Verdacht stehen, sich in die neuen gesellschaftlichen Bedingungen nicht einbringen zu können oder zu wollen. Und natürlich gibt es Sicherheitsrisiken, die ernst genommen und verantwortlich gehandhabt werden müssen, weswegen die riesige Mehrheit der Afghanen, Syrer, Iraker, Araber, Afrikaner, die mit guter Absicht kommen, unter Verdacht stehen und leiden müssen. Das müssen wir realistisch sehen, die EU kann also nicht einfach Visumzwang und Registrierung generell aufgeben.
Aber wir können die ressentimentgeladene Aversion gegen Flüchtlinge ablegen, die latente Neid- und Konkurrenzhaltung aufgeben. Dazu würde eine Koalition der aufnahmebereiten Staaten, wie sie im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition vorgeschlagen wird, helfen. Generell sollte weniger reguliert, mehr auf Freiwilligkeit gegründet werden, Kommunen sollten in Absprache mit ihren nationalen Regierungen für die Aufnahme von Geflüchtetem aktiv werden können. Ein europäischer Fonds, der die Kommunen bei der Integration und ihrer auch jenseits der Flüchtlinge erforderlichen Entwicklung finanziell fördert, könnte die Freiwilligkeit unterstützen.
Wir hätten dann nicht nur ein großes Herz, sondern auch einen klugen Kopf, der das große Herz nicht zum Schweigen bringt, sondern uns bei einer gut durchdachten Flüchtlingsaufnahme in Europa leitet.
Dieser Beitrag ist in unserem Newsletter Schöpflins Schaufenster 01/2022 erschienen. Keine Ausgabe mehr verpassen? Hier geht es zur Newsletter-Anmeldung.